
»Wo ist dein Bruder?«
1. Mose 4,9
Liebe Gemeinde,
der Theologe und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer (*4.II.1906 Breslau, † 9.IV.1945 Konzentrationslager Flossenbürg) hatte die Angewohnheit am Rand seiner Bibel einzelner Verse Tage mit dem entsprechenden Datum zu notieren, an denen er den jeweiligen Bibelvers las. Die gelesenen Verse erschienen ihm wie in seine eigene geschichtliche Situation geschrieben. So findet sich in der uns überlieferten Bibel Dietrich Bonhoeffers auch die Unterstreichung folgenden Verses aus dem 74. Psalm: »Sie verbrennen alle Häuser Gottes im Lande« und daneben geschrieben »9.11.38«, das Datum der Reichsprogromnacht, in der die Nationalsozialisten die Synagogen und jüdische Versammlungshäuser zerstörten und hunderte jüdische Menschen starben. Daneben merkte er an: »Unsere Zeichen sehen wir nicht, und kein Prophet predigt mehr, und keiner ist bei uns, der weiß wie lange«. Diese historische Tatsache zeugt davon, dass biblische Worte einem Menschen eine Sprache geben können für Dinge, die uns unvorstellbar und unverständlich erscheinen.
In einer ganz anderen, nicht zu vergleichenden Situation erinnerte sich der Verfasser dieses Gemeindebriefs am 24. Februar 2022 an diese Angewohnheit Dietrich Bonhoeffers, als die Nachrichten von dem Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine berichteten. In der Vorbebereitung dieses Gemeindebriefs war die Geschichte von Kain und Abel gerade aufgeschlagen und ein Vers aus dem ersten Buch Mose schien die Situation zu treffen: »Da sprach der Herr zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein? Er aber sprach: Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde.« (1. Mose 4,9-10).
Zu einem Krieg ist das richtige Wort nur schwer zu finden. Jenseits politischer Einschätzungen aber ist das Leid vieler Menschen auf Grund des Krieges offensichtlich. Aus aktuellem Anlass sei daher die folgende Bitte dem theologischen Wort in diesem Gemeindebrief vorangestellt: Das Presbyterium der Ev. Kirchengemeinde Rondorf bittet wie die ganze Evangelische Kirche im Rheinland um die Unterstützung des Hilfsprojekts der Diakonie Katastrophenhilfe für die vom Krieg in der Ukraine betroffenen Menschen.
Die Geschichte von Kain und Abel
»Und Adam erkannte Eva, seine Frau. Und sie wurde schwanger und gebar den Kain und sprach: Ich habe einen Mann gewonnen mit Hilfe des Herrn. Danach gebar sie Abel, seinen Bruder.«
(1. Mose 4,1-2)
Die Erzählung von Kain und Abel gehört bekanntlich zur Urgeschichte der Bibel (1. Mose 1-11), wie die Schöpfungsgeschichten, die Erzählung von Adam und Eva, die Arche Noah, oder die Sintflut. Diese Urgeschichten der Bibel sind keine historischen Berichte und sollten dies auch nie sein, wie schon die merkwürdige Aneinanderreihung von zwei Schöpfungsgeschichten zeigt. Urgeschichtlichen Erzählungen geht es um grundlegende Merkmale des Menschseins, die überall vorkommen zu allen Zeiten und in allen Kulturen, so dass jeder Mensch etwas von sich in diesen Erzählungen wiederfinden kann. Die Provokation der Erzählung von Kain und Abel ist es, dass in der ersten und damit in jeder Familie der Menschen ein Brudermord möglich ist, dass jeder Mensch in irgendeiner Weise in die Rolle Kains geraten könnte.
»Und Abel wurde ein Schäfer, Kain aber wurde ein Ackermann. Es begab sich aber nach etlicher Zeit, dass Kain dem Herrn Opfer brachte von den Früchten des Feldes. Und auch Abel brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der Herr sah gnädig an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick.«
(1. Mose 4,2-5)
Die kurze Erzählung von Kain und Abel lässt viele Fragen offen. Die Geschichte ist auf das Wesentliche komprimiert und gibt der eigenen Phantasie Anlass, darüber nachzudenken, wie die Geschichte eigentlich ihren dramatischen Verlauf nehmen konnte. Wir haben bis heute keine wirklich überzeugende Erklärung für die himmelschreiende Ungerechtigkeit, an dem der Bruderstreit seinen Ausgang nimmt, dass Gott des einen Bruders Opfer anerkennt und des anderen Dankesgabe ablehnt. Alle bisherigen Versuche, dieses Rätsel der Bibel zu lösen, lesen eine Begründung in den Text hinein: der Unterschied der Opfergabe, die falsche Art der Opferung, die böse Gesinnung des Kains, sie überzeugen nicht. Oder liegt in der Geschichte der Hinweis verborgen, dass nirgendwo geschrieben steht, dass Gott verpflichtet ist, eine Gabe des Menschen anzuerkennen; dass vielmehr der Maßstab seiner Gnade für den Menschen nicht nachvollziehbar ist? Vielleicht lässt die biblische Erzählung auch bewusst den Grund der Ungleichheit offen, weil es schlicht um die Ungleichheit unter den Menschen geht, die harte Tatsache, dass einige Menschen zufällig bevorzugt leben können und andere nicht.
Kain und Abel geben etwas von ihrem beruflichen Ertrag dar und ihr Dank sucht die Anerkennung dessen, der ihre Arbeit auch zukünftig segnen möge. Die biblische Erzählung braucht nur einen Satz, um den innerlichen und äußerlichen Zusammenbruch seiner Sehnsucht nach Anerkennung seiner Arbeit zu beschreiben und der empfundenen Scham Ausdruck zu geben. »Er möchte am liebsten im Erdboben verschwinden. Ihm ist peinlich, was hier geschieht. Peinlich ist es ihm auch vor seinem Bruder und vor seinen Eltern. Scham ist ein hochgradig ansteckendes Gefühl. Wahrscheinlich schämen sich Abel und die Eltern auch für ihn. Kain möchte in dieser Situation so nicht gesehen werden.«
»Da sprach der Herr zu Kain: Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick? Ist‘s nicht also? Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie.«
(1. Mose 4,6-7)
Bemerkenswert ist der Versuch des literarischen Gottes, den erzürnten Menschen zu befrieden, oder ihn zumindest davon abzuhalten, sich von Wut und Zorn bestimmen zu lassen. Präzise beschreibt die uralte biblische Geschichte wie der Mensch, der nicht mehr aufblickt und nicht mehr ansprechbar ist, sich selbst in seinen Gedanken verstricken kann. Kain ignoriert die Fragen, er nimmt nicht wahr, dass Gott sein Angesicht gerade über ihm erhebt (vgl. 4. Mose 6,26), ihm also nicht jede Anerkennung seiner Person verwehrt. Kain verschliesst sich der Möglichkeit seiner ihn befreienden Anerkennung, die er nur erfahren kann, wenn er sein Angesicht wieder erhebt. Doch von seinem Zorn erfüllt, kennt er nur einen Ausweg aus seinem Dilemma.
»Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: Lass uns aufs Feld gehen! Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot.«
(1. Mose 4,8)
Kains Tat wird denkbar knapp beschrieben. Es werden keine Details erwähnt, sondern schlicht die grausame Notiz des Mordes an seinem Bruder gemacht. Die Brutalität des Mordes ist nicht das eigentliche Thema der Geschichte, sondern der Weg, wie aus der Scham des Menschen Schuld wird. Obwohl es durchaus andere Möglichkeiten gegeben hätte, sieht Kain den Ausweg aus der empfundenen Ohnmacht der Scham im Weg in die Schuld eines Mordes. Der Bruder ist ihm zum Sinnbild seiner Kränkung geworden, die er nicht mehr erträgt und die ein Ende haben soll. Aus der Scham wird Schuld: statt die Ohnmacht zu ertragen, wird er schamlos und ergreift eine Möglichkeit, die ihn zum Handelnden macht: So wird er zum Mörder.
»Da sprach der Herr zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein? Er aber sprach: Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde. Und nun: Verflucht seist du auf der Erde, die ihr Maul hat aufgetan und deines Bruders Blut von deinen Händen empfangen. Wenn du den Acker bebauen wirst, soll er dir hinfort seinen Ertrag nicht geben. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden. Kain aber sprach zu dem Herrn: Meine Schuld ist zu schwer, als dass ich sie tragen könnte. Siehe, du treibst mich heute vom Acker, und ich muss mich vor deinem Angesicht verbergen und muss unstet und flüchtig sein auf Erden. So wird mir‘s gehen, dass mich totschlägt, wer mich findet.«
(1. Mose 4,9-14)
Der ganze Schrecken vor Gewalt und Mord, die bis heute die Menschheitsgeschichte durchziehen, liegt in der Anklage Gottes: Das Blut seines Bruders schreit von der Erde, die nun für Kain nicht mehr fruchtbar sein kann. Das biblische Bild beschreibt, wie der Mensch die Erde, die ihm zur Verantwortung gegeben wurde, zerstört.
Kain leugnet zuerst seine Tat und weiß doch um seine Schuld. Seine eigene Rückfrage offenbart, dass Kain weiß, was er getan hat. In seiner Lüge vor Gott offenbart sich, dass er mit dem Mord sich selbst verloren hat. Die Geschichte von Kain und Abel folgt der Geschichte vom Garten Eden, in der Adam und Eva vom Baum Erkenntnis von Gut und Böse essen. Die Erkenntnis des Bösen und wie er sich davon hat bestimmen lassen, leuchtet Kain in dem Moment seiner Lüge ein. Zu spät erkennt er seine Verirrung und bekennt seine Schuld, die zu schwer ist, sie zu ertragen. Sein Bruder ist tot. Nun hat er Angst vor der Rache der Menschen. Er denkt, dass er nun selbst nichts anderes verdient hat als den Tod. Doch auch damit bleibt er in seinem vor allem von sich selbst aus gedachten Denkmuster gefangen.
»Aber der Herr sprach zu ihm: Nein, sondern wer Kain totschlägt, das soll siebenfältig gerächt werden. Und der Herr machte ein Zeichen an Kain, dass ihn niemand erschlüge, der ihn fände. So ging Kain hinweg von dem Angesicht des Herrn und wohnte im Lande Nod, jenseits von Eden, gegen Osten.«
(1. Mose 4,15-16)
Das sprichwörtlich gewordene ›Kainsmal‹ ist die Überraschung der biblischen Geschichte. Gott schützt den Täter, indem er den Gewalttätigen vor der Gewalt der Rache bewahrt. Auch wenn die göttliche Anordnung irritiert. Die Bibel gibt keine moralische korrekte Lösung, sie beschreibt schlicht die Tatsache des Abgründigen, zu dem Menschen untereinander fähig sind. Die Schuld wird dem Menschen nicht genommen, er muss vielmehr »jenseits von Eden« mit ihr leben. Am Ende steht nicht etwa eine zweite Chance, sondern ein Ort der Verbannung: der Name des hebräischen Ortsnamens נוֹד, Nod, bedeutet übersetzt »umherirren«. Kain hat sich von Gott und seinen Mitmenschen entfremdet, und ist so heimatlos geworden. Die biblische Figur von Kain steht für die Urgefährdung des Menschen, in seinem Leben auf einen Irrweg zu geraten und schuldig zu werden. Ohne moralische Belehrung schildert die faszinierende Geschichte von Kain und Abel die Geschichte einer unmenschlichen Verstrickung, die bis in die Gegenwart reicht.
Die Verkündigung Jesu als eine Entschämungstherapie
Jesus von Nazareth kannte die urgeschichtliche Erzählung von Kain und Abel. Ein belesener Theologe unserer Zeit hat Jesus von Nazareth als einen »Weisheitslehrer« beschrieben, der die Menschen für eine neue Wahrnehmung sensibilisieren und von der Macht des den Brudermörder bestimmenden Denkmuster von Ehre und Scham befreien wollte. So zielte Jesu Handeln auf die Entschämung von Menschen, die gesellschaftlich beschämt wurden, indem er diejenigen, die schamlos agieren, beschämt: eine auf Grund ihrer Krankheit ausgeschlossene Frau wird am Sabbat gegen den Willen der Schriftgelehrten geheilt (vgl. Lukas 13,10-17), eine zur Steinigung verurteilte Ehebrecherin wird vor ihrer Strafe durch die beschämende Frage bewahrt, wer denn ohne Sünde sei (Johannes 8,2-11); und ein auf Grund seines Berufes geächteter Mann wird der darüber empörten Masse, die auf Jesus wartet, vorgezogen (Lukas 19,1-10).
Das oft viel zu nah am Kitsch ausgelegte Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lukas 10,25-37) kann uns den Gedanken der Entschämung durch ein Gleichnis Jesu am besten nahebringen: »Die alles entscheidende Frage lautet, warum zwei Kultvertreter, ein Priester und Levit, an einem überfallenen Menschen vorbeigehen, aber ein Samaritaner, mit dem Juden keinen Umfang pflegten, endlich sensibel reagiert und hilft.« Der Priester und Levit hatten schlicht Angst, weil sie »mit der Brille ihrer Reinheitsgesetze den Überfallenen als blutig und verdreckt und damit als unrein wahrnehmen«. Der Samariter ist ein Vertreter einer aus dem Judentum hervorgegangen aber als kultisch verwahrlost geltenden Religion. Er nimmt den Überfallenen aber nicht in der Perspektive der auch eigenen Reinheitsgebote, sondern als Mitmensch wahr.
Spannend ist dieses Gleichnis vor allem, weil Jesus es in einem Streitgespräch mit Schriftgelehrten erzählt. Sie diskutieren die Frage der Schriftgelehrten, wie man das ewige Leben erreichen könne. Die Pointe des Gleichnisses verbirgt sich in der Gegenfrage Jesu: »Was steht im Gesetz? Was liest du?« (Lukas 10,26). Die Schriftgelehrten werden auf die Urgeschichte, also auch auf die Geschichte von Kain und Abel verwiesen, in der es keinen Unterschied zwischen Religionen gibt, sondern die Urgeschichte aller Menschen erzählt wird. Das bildhafte Gleichnis hat die Kraft, dass sich die Angeredeten in der Geschichte wiedererkennen. Die Beschämung der Schriftgelehrten soll der Reform des auch Jesus von seiner Herkunft her eigenen Glauben dienen. In ihrer Ehre gekränkt, reagieren die Schriftgelehrten im Evangelium freilich »wie Kain, wenn sie die Situation der Scham in Schuld verschieben und Jesu den Prozess machen.«
Wenn Sie sich zu Ostern also wie viele fragen, warum wir diese schwierige, und von Gewalt geprägte Geschichte von der Kreuzigung und Auferstehung Jesu wieder lesen, dann können wir uns an diesen Gedanken erinnern, dass Jesus mit seinem Wirken und seiner ganzen Person unsere Wahrnehmung verändern wollte. Indem er der Welt den Spiegel ihrer Gewalt vorhält, werden wir beschämt, um zugleich damit unsere Mitmenschen als solche sensibler wahrnehmen zu lernen: »Was liest du?«
Ich wünsche Ihnen frohe Ostern,
Roman Michelfelder, Pfarrer