»Meine Augen sehnen sich nach deinem Wort.«

Psalm 119,82

Liebe Leserin, lieber Leser!

jeder Mensch kennt das bitter-süße Gefühl der Sehnsucht: Kinder sehnen sich ganz offen nach Anerkennung; als Jugendliche schwelgen wir erstmals verliebt in der Sehnsucht nach der oder dem Auserwählten; als junge Erwachsene ersehnen wir uns das Glück einer perfekten Familie oder den Erfolg einer tollen Karriere; im mittleren Alter sehnen wir uns oft nach fremden Orten, wo wir dem stressigen Alltag entfliehen können; im Alter sehnen wir uns nach der Bewahrung der erlebten Gemeinschaft und der Lebendigkeit der Jugend zurück; und wenn eine Krankheit das Ende des Lebens fast unerträglich macht, können Menschen, auch ganz ohne religiöse Hintergedanken, sich sogar nach dem Tod sehnen.

Das deutsche Wort hat recht: das Sehnen ist eine Sucht des Menschen, von der er nicht los kommt. Das Sehnen kann sich als Sucht an alles binden, an Materielles oder auch an bloße Ideen. Wonach wir uns sehnen, ist das was wir noch nicht haben, wo wir noch nicht sind, wie wir noch nicht leben, wer wir noch nicht sind. Wir sehnen uns nicht nur nach anderen Menschen, Dingen, Situationen, Gefühlen und Orten, sondern wir sehnen uns gar selbst zuweilen ein anderer zu sein. Ein junges Gemeindeglied unserer Gemeinde brachte es in einem unserer Gesprächskreise im Jugendkreis auf den Punkt: »Der Mensch sehnt sich immer, ein anderer zu sein, bis er sich gar nicht mehr sehnen kann.« Der Mensch ist, so lange er lebt, von Sehnsucht getrieben. Die Sehnsucht ist zwar eine schmerzvolle Erfahrung, doch zugleich auch eine Antriebsfeder unseres Lebens, ein schönes Schwelgen in den Vorstellungen von dem großen Glück. »Sehnsucht ist der ungestillte Hunger und Durst der Seele.«1 Sie scheint immer da zu sein, selbst, wenn ein sehnsüchtig erhoffter Wunsch in Erfüllung gegangen ist, richtet sich unser Sehnen schon wieder neu aus. Im positiven Fall bringt uns diese innere Unruhe weiter, und bleibt ein »permanenter Stachel in der Selbstgenügsamkeit unseres Daseins«.2 Im negativen Fall schaffen wir es nicht mit ihr umzugehen und werden ein dauerhaft unzufriedener Mensch, der von den eigenen Sehnsüchten getrieben, gar keine Erfüllung mehr erleben kann und unglücklich wird.

Der sehnsüchtige Blick in die Ferne

Der sehnsüchtige Blick der Frau auf dem Titelbild dieses Gemeindebriefs setzt diese Dimension menschlichen Lebens in Szene: in der offenen Tür sitzt eine junge Frau in weißem Kleid und sieht auf das mondbeschienene Wasser hinaus. Ihr Gesicht, das uns verraten könnte, wer sie ist, können wir nicht sehen, da sie uns abgewandt in die Ferne blickt. Wie in der Tradition der romantischen Malerei lässt die uns unbekannte Protagonisten des Bildes einen offenen Raum für den Betrachter mit der Frage: Könnten auch wir es sein, der so sehnsüchtig in die Ferne sieht? Das Kleid der Frau wird von den Farben sowohl des natürlichen ›blauen‹2 Mondlichts als auch des künstlichen Lichts der eigentlich als ›chinesischen Laterne‹ zu bezeichnenden Beleuchtung subtil gefärbt. So erscheint uns das Bild als eine Verbildlichung des inneren Gefühls der Sehnsucht.

Oda Krohg, geb. Lasson (11.VI.1860 Kristiania [Oslo], † 19.X.1935 Oslo),3 eine in ihrer für weibliche Künstler schwierigen Zeit außergewöhnlich eigenständige Frau, die entgegen viele Widerstände als Malerin erfolgreich war, stellte mit 26 Jahren im Jahr 1886 dieses Bild ›Am Kristianiafjord (Japanische Laterne)‹ bei einem großen Salon in Oslo vor. In diesem Bild vereinte sie originell zwei bisher von einander unterschiedene Motive der Kunstgeschichte.4 Und gerade die Verbindung des romantischen Blicks in die Natur, wie Sie uns etwa in den bekannten Bildern eines Caspar David Friedrich (* 5.IX.1774 Greifswald, † 7.V.1840 Dresden) begegnet (siehe S. 36-37), mit der Faszination für eine fremde, fernöstliche Kultur, wie sie im ›Japonismus‹ in der Kunst des 19. Jahrhunderts entstand, veranschaulicht uns intensiv das Gefühl einer Sehnsucht, die wir noch heute kennen. Bis heute hat dieses Motiv des in die Natur blickenden, sich sehnenden Menschen seine Anziehungskraft nicht verloren: schnell lassen sich im Internet, in sozialen Netzwerken oder wahrscheinlich auch in ihren Urlaubsarchiven Photographien von Urlaubsreisen an besonders faszinierenden Orten finden, die in dieser Tradition gestaltet sind.

»Meine Augen sehnen sich nach deinem Wort«

Auch in der Bibel, in einem besonderen Psalm des Alten Testaments findet sich eine Sehnsucht des Menschen beschrieben: der 119. Psalm ist der Längste des Psalters und beschreibt das ganze Leben des Menschen und seine Welt in 22 Abschnitten unter den für das Judentum damals so wesentlichen Geboten Gottes, beginnend mit der Jugend. Der Psalm ist entsprechend der 22 hebräischen Buchstaben gegliedert. Jeder Abschnitt beginnt mit dem jeweils nächsten Buchstaben des hebräischen Alphabets und jeder Buchstabe ist enthalten, so dass der Psalm in seiner Nummerierung der Abschnitte eine Vollständigkeit, ein ganzes Leben, widerspiegeln soll.

Im Zentrum dieses Psalms findet sich ein bemerkenswertes Wort der Sehnsucht: »Meine Augen sehnen sich nach deinem Wort« (Psalm 119,82). Anders als im romantisch-verträumten, in sich gekehrten Blick der Frau des Titelbildes, fragen die Augen des Psalmisten allerdings flehentlich nach der Zuwendung von Gottes Angesicht. Das Bemerkenswerte des biblischen Psalmwortes liegt vor allem in dem Widerspruch, der in dem seltsamen Bild liegt, dass ›Augen‹, die doch zum Sehen bestimmt5 sind, sehnsüchtig auf ein ›Wort‹ warten. Die Sehnsucht des Psalmisten richtet sich nicht auf eine Sache, eine neue Situation noch einen anderen Menschen, sondern auf den unsichtbaren Gott. Weder von der eigenen Verhaltensänderung oder der eines anderen Menschen, noch von der sichtbaren Veränderung der Welt erwartet der Beter seinen Trost, sondern von einem Wort dieses Gottes. Es gibt tatsächlich Worte, die unsere Augen hell machen können. Worte, die unser Herz erreichen, verändern unsern Blick auf die Welt.

Die Gelassenheit christlichen Lebenstrostes

Die Fortsetzung unseres biblischen Wortes verrät uns, was die sich sehnenden Augen des Psalmisten von dem Wort Gottes erwarten: »Meine Augen sehnen sich nach deinem Wort und sagen: Wann tröstest du mich?« (Psalm 119,82). Wenn wir heute das Wort »Trost« hören, denken wir an Trostbonbons, Vertröstungen oder ein Trostpflaster. Entgegen dieser sprachlichen Prägung unserer Zeit enthält dieses Wort aber viel mehr. Wir können diese tiefere Bedeutung noch erahnen, wenn wir etwa zu einem Menschen sagen, er sei »nicht ganz bei Trost«. Jeder Mensch ist in seinem Leben beständig auf Trost angewiesen, und nur ein Mensch, der getrost in die Welt geht, kann anderen Zuversicht vorleben. Trost, so heißt es im etymologischen Wörterbuch der deutschen Sprache, bedeutet »seelischer Halt, Zuversicht, Ermutigung«.6

In diesem Sinne spricht der Apostel Paulus vom christlichen Glauben als einem Lebenstrost für den Menschen: »Gelobt sie Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der Vater der Barmherzigkeit und Gott allen Trostes, der uns tröstet in aller unserer Bedrängnis, damit wir auch trösten können, die in allerlei Bedrängnis sind, mit dem Trost, mit dem wir selber getröstet werden von Gott.« (2. Korinther 1,3-4).

Der christliche Glaube ist also keine religiöse Erfüllung menschlicher Sehnsüchte, sondern vielmehr eine seelische Vorsorge vor übersteigerter Sehnsucht. Das menschliche Sehnen ist wie eine Sucht, deren Dosis wir immer weiter steigern müssen, um die gewohnte Wirkung der Befriedigung zu erfahren. Wer durch das Wort Gottes Trost erfährt, der kann die Sehnsucht getrost als menschliche Lebensbegleiterin annehmen. Nach der Bibel besteht überraschenderweise gerade darin die seelische Aufgabe der christlichen Kirche für eine aufgeregte Zeit, wohltuend gelassen mit der menschlichen Sucht des Sehnens umzugehen. Der Gottesdienst, in dem wir auf das Wort Gottes hören, kann daher ein Ort seelischer Vorsorge für unsere unstillbare Sehnsucht sein.

Ihr Roman Michelfelder, Pfarrer

Anmerkungen

  1. 1  Vgl. Wolfgang Hantel-Quitmann, Sehnsucht. Das unstillbare Gefühl, Stuttgart 2011, S. 17; vgl. auch zur psychologischen Erforschung des Phänomens ›Sehnsucht‹: Scheibe, S., Freund, A. M., & Baltes, P. B. (2007). Toward a developmental psychology of Sehnsucht (life longings): The optimal (utopian) life. Developmental Psychology Bd. 43, S. 778–795.
  2. 2  Die blaue Farbe des Lichts kann vielleicht auch eine Anspielung auf die Hochphase der Sehnsucht, die Frühromantik, sein, als die ›blaue Blume‹ zum literarischen Geheimcode der Sehnsucht wurde: »Ich suche die blaue Blume, / Ich suche und finde sie nie, / Mir träumt, dass in der Blume / Mein gutes Glück mir blüh.«. Mit dem Symbol der blauen Blume in der romantischen Dichtung eines Joseph von Eichendorff (* 10.III.1788 Schloss Lubowitz bei Ratibor † 26.XI.1857 Neisse) wurde ein romantisch überhöhtes Lebensgefühl einer lebenslang unstillbaren Sehnsucht in Worte gefasst: »Ich wandre schon seit lange, / Hab lang gehofft, vertraut, / Doch ach, noch nirgends hab ich / Die blaue Blum geschaut.« (Joseph von Eichendorff, Sämtliche Gedichte und Versepen, hg. von Hartwig Schulz, Frankfurt a.M. und Leipzig 2007, S. 276).
  3. 3  Anne Wichstrøm, Oda Krohg. Eine biografische und kunstgeschichtliche Skizze, in: Verena Borgmann / Frank Laukötter (Hg,), Oda Krohg. Malerin und Muse im Kreis um Edvard Munch, Köln 2011, S. 8-21.
  4. 4  Vgl. Verena Borgmann, Oda Krohg und Edvard Munch – Seelenlandschaften, in: dies. / Frank Laukötter (Hg,), Oda Krohg. Malerin und Muse im Kreis um Edvard Munch, Köln 2011, S. 51: »So ist es uns heute möglich, Oda Krohgs Pionierleistung zu würdigen – eine Künstlerin, die als erste den Japonismus mit nächtlichen Stimmungsbildern kombinierte und die ihr erstes Sommernachtsbild malte, noch bevor Edvard Munch die Sommernacht zum Thema seiner Bilder machte«.
  5. 5  Eberhard Jüngel, Predigt über Psalm 119,81-82, in: ders., …ein bißchen meschugge. Predigten V, Stuttgart 2017, S. 154-159.
  6. 6  Wolfgang Pfeifer u.a. (Hg.), Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, Band 3: Q-Z, Berlin 1989, S. 1849; vgl. auch Christian Möller, Kirche die bei Trost ist, Göttingen 2007.