»Das geschah aber, damit wir unser Vertrauen nicht auf uns selbst setzten, sondern auf Gott«
2. Korinther 1,9
Liebe Leserin, lieber Leser,
»Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!« – jeder von uns wird diesen Satz schon einmal gehört haben. Doch diese scheinbare Lebensweisheit verkennt die Bedeutung des Vertrauens für unser Zusammenleben in der Familie, im Freundeskreis, in der Gemeinde, in der Gesellschaft, für unser alltägliches Leben.
Gerade auch in unserer komplizierten modernen Welt leben wir aus dem Vertrauen. Tagtäglich vertrauen wir anderen Menschen, wenn wir in unserem nicht von uns gebauten Haus ruhig einschlafen, wenn wir unsere digitalen Geräte verwenden, deren technischen Hintergrund wir eigentlich gar nicht durchschauen. Oder wenn wir uns auf den Weg zur Arbeit machen und im Verkehr nicht nur auf die Ingenieure vertrauen, die das Auto gebaut haben, sondern auch darauf, dass alle anderen sich hoffentlich auch an die Verkehrsordnung halten. Und auch kein Vertrag oder rechtliche Vereinbarung würde ohne gegenseitiges Vertrauen funktionieren. Unser Leben ist getragen vom Vertrauen auf andere Menschen.
Insbesondere in den persönlichsten Beziehungen können wir das erkennen: Ohne Vertrauen ist eine Ehe schnell vorbei, und eine Familie, in der das Vertrauen zueinander fehlt, wird schnell von Sorgen und Misstrauen geprägt. Die Erziehung unserer Kinder in den Familien zeigt uns das merkwürdige Phänomen, dass die Sorge und Kontrolle der Eltern das Vertrauen der Kinder in die Welt und zu sich selbst sogar ersticken können. Die Beispiele aus unserem Alltag, in dem das Vertrauen eine entscheidende Rolle spielt, ließen sich noch leicht ergänzen. Wir merken: Vertrauen ist ein hohes Gut! Doch was bedeutet es eigentlich, einem anderen zu vertrauen?
»Worauf du nun, sage ich, dein Herz hängst und worauf du dich verlässt, das ist eigentlich dein Gott.«1
Den vielleicht schönsten sprachlichen Ausdruck für das Phänomen des Vertrauens hat Martin Luther im ›Kleinen Katechismus‹ bei der Auslegung des ersten der zehn Gebote gefunden. Sein sprachliches Bild, sein Herz an jemanden oder etwas zu hängen, überträgt das unsichtbare Vertrauen auf die sichtbare Dimension des Körpers. Das Zentralorgan aus seinem Leib herauszunehmen, und an jemandem festzumachen, ist ein eindrückliches Bild dafür, wie der Mensch sich bildlich auf einen anderen verlässt, wie verletzlich er sich damit macht und zugleich, wie wichtig ihm die andere Person ist, der er sein Vertrauen schenkt.
Vertrauen setzt dabei immer eine Beziehung voraus. Der Satz ›Ich vertraue‹ scheint uns unvollständig. Erst mit der Bezeichnung wem oder worauf wir vertrauen, wird der Satz verständlich: ›Ich vertraue meinem Arzt‹.
Zugleich weist uns Martin Luther mit seiner präzisen Bildsprache auf einen weiteren Aspekt des Vertrauens hin: ›jemandem zu vertrauen‹ bedeutet, ›sich zu verlassen‹. Ein Mensch, der einem anderen vertraut, verlässt sich auf den anderen. Das Vertrauen ist ein Geschehen, das zwei Menschen miteinander verbindet, in der beide, sich dem jeweils anderen zuwenden, und zugleich eine Zuwendung erleben: Vertrauen sich zwei Menschen, dann sind sie füreinander nicht auswechselbar, sondern erfahren eine Zuwendung, die ihnen persönlich und keinem anderen gilt. So ist das gegenseitige Vertrauen mit der Erfahrung einer unverwechselbaren Bedeutsamkeit verbunden. Derjenige, der sich einem Menschen anvertrauen, sich auf ihn verlassen kann, erfährt eine Wertschätzung, und derjenige, dem Vertrauen geschenkt wird, wird durch das Zutrauen als vertrauenswürdig anerkannt.
Das Vertrauen bildet sich daher auch nicht einfach von selbst. Vielmehr entsteht es durch die Erfahrung persönlicher Zuwendung, dass wir als Person in unserer Einzigartigkeit gesehen sind. Erleben wir diese Zugewandtheit und Liebe, dann können wir unser Gegenüber und uns selbst erkennen. Doch wenn ein Mensch selbst nie in dieser Weise erkannt worden ist, fällt es ihm schwer, andere anzuerkennen. Und wir wissen: Wenn einem Menschen nie jemand etwas zugetraut hat, dann fällt es ihm auch schwer, sich selbst etwas zuzutrauen, Selbst-vertrauen zu haben. So gründet die Fähigkeit zur Anerkennung anderer in
der Gewissheit des eigenen Anerkanntseins und die Kraft des Vertrauens wird durch die eigene Erfahrung des Zutrauens geweckt.
»Einen Gott haben heißt also nichts anderes, als ihm von Herzen vertrauen und glauben«2
Für Martin Luther bedeutete es eine lebenswendende Einsicht, als er erkannte, dass ›Glauben‹ ein ›Vertrauen‹ ist. Wir verwenden das Wort »Glaube« in der deutschen Sprache heute in unterschiedlichen Bedeutungen. Es kann sowohl eine bloße Vermutung und eine Unsicherheit ausdrücken als auch eine starke Überzeugung und Gewissheit. Doch die Sprachgeschichte verrät uns, dass die »Bedeutung von ›glauben‹ als ›vertrauen‹ […] die ursprüngliche Bedeutung dieses Wortes ist.«3
Und auch der Blick in das griechische Neue Testament zeigt, dass der ursprüngliche Sinn des christlichen Glaubens das Vertrauen auf Gott bezeichnet. Während das Alte Testament von der Treue des Menschen zu Gott sprach, sprachen die ersten Christen von ihrem Glauben an Jesus Christus. Darin drückte sich aus, dass sie ihren Glauben an Gott nur noch durch die Beziehung zu dieser Person verstehen konnten. Anders als oft angenommen ist der christliche Glaube ursprünglich kein »Für-wahr-halten« einer religiösen Lehre, sondern eine Beziehung. Es geht also im christlichen Glauben nicht um die Überzeugung eines einzelnen Menschen für sich oder eine moralische Meinung, sondern um die Beziehung des Menschen zu Gott.
Und genauso wie das Vertrauen in der zwischenmenschlichen Beziehung können wir auch das Gottvertrauen nicht aus eigener Kraft erlernen. Dieses Vertrauen verdanken wir dem erlebten Zutrauen, der Zuwendung und dem Zuspruch Gottes. Die Erfahrung der unbedingten Annahme unserer Person bei Gott ist ein Zutrauen, ein Geschenk, dass wir uns selbst nicht machen können. In dieser Unbedingtheit des von Gott uns Menschen geschenkten Vertrauens liegt der Unterschied zum menschlichen Vertrauen, bei dem wir unser Misstrauen selbst in den engsten Vertrauensbeziehungen niemals ganz überwinden können.
»Das geschah aber, damit wir unser Vertrauen nicht auf uns selbst setzten, sondern auf Gott«
2. Korinther 1,9
Oft vergessen wir in unserem Leben, dass wir nicht alles unter Kontrolle haben können und meinen, alles regeln zu müssen. Wenn der Glaube ein Vertrauen auf Gott ist, das in dem Zutrauen Gottes zum Menschen gründet, dann dürfen wir uns darauf verlassen, dass wir in den menschlichen Beziehungen, in denen Vertrauen zwischen uns entsteht, das Wirken von Gottes Zutrauen zu uns erleben.
Ihr Roman Michelfelder, Pfarrer
Anmerkungen
1 Martin Luther, Teudsch Catechismus. Der große Catechismus. 1529, in: ders., Werke, Bd. 30, Erste Abteilung, hg. von Karl Drescher, Weimar 1910,
S. 133, in unser heutiges Deutsch übertragen.
2 Ebd., in unser heutiges Deutsch übertragen.
3 Wilfried Härle, Vertrauenssache. Vom Sinn des Glaubens an Gott, Leipzig 2022, S. 12.