»Jeder aber, der Wettkämpfe bestreitet, lebt in jeder Hinsicht enthaltsam; jene nun, damit sie einen vergänglichen Kranz erlangen, wir aber einen unvergänglichen.«
– 1. Korinther 9,25
Liebe Leserin, lieber Leser!
Vor fünfzig Jahren, 1972, fanden in München die 20. Olympischen Spiele der Neuzeit (offiziell: »Spiele der XX. Olympiade«) statt. (1) Sie wurden von dem damaligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann (1899-1976) am 26. August 1972 im Olympiastadion in München eröffnet. Mit der Wahl des Austragungsortes sollte auch ein neues Bild, das Deutschland von sich zeigt, verbunden sein. Nach den von der nationalsozialistischen Propaganda missbrauchten Olympischen Spielen 1936 in Berlin sollte sich Deutschland 1972 als ein weltoffenes und demokratisch gefestigtes Land präsentieren können. Ausgerechnet während dieser Spiele kam es zehn Tage nach der Eröffnung zur Geiselnahme und Ermordung elf israelischer Athleten durch palästinensische Terroristen. Am Tag darauf wurden die Spiele für einen Tag unterbrochen. Der überzeugte Christ Gustav Heinemann, der während des Dritten Reiches im Keller seines Hauses illegale Flugschriften der Bekennenden Kirche drucken und verbreiten ließ,(2) sagte in seiner Rede auf der Trauerfeier für die Opfer des Terroranschlags am 6. September 1972:
»Vor 11 Tagen habe ich hier in dieser Arena die Olympischen Spiele München 1972 eröffnet. Sie begannen als wahrhaft heitere Spiele im Sinne der olympischen Idee. […] Wo vor kurzem noch frohe Gelöstheit herrschte, zeichnen jetzt Ohnmacht und Erschütterung die Gesichter der Menschen. Fassungslos stehen wir vor einem wahrhaft ruchlosen Verbrechen. […] Gerade angesichts der neuen Opfer gilt es, jetzt dem Fanatismus, der die Welt aufschreckt, den Willen zu Verständigung entgegenzubringen. Die olympische Idee ist nicht widerlegt. Wir sind ihr stärker verpflichtet als zuvor. […] Im Namen der Bundesrepublik Deutschland appelliere ich an alle Völker der Welt: Helft mit, den Haß zu überwinden. Helft mit, der Versöhnung den Weg zu bereiten.«(3)
Im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen in München stehen auch die im Gemeindebrief 44/132 veröffentlichten Bilder.
Vor 100 Jahren wurde der ›Designer, Typograph und Denker‹4 Otl Aicher (1922-1991) geboren, einer der bedeutendsten deutschen Gestalter bzw. Graphikdesigner und einer der Wegbereiter des Corporate Designs, also des gesamten und einheitlichen Erscheinungsbildes eines Unternehmens oder einer Organisation. Aichers bekanntestes Werk ist das Erscheinungsbild zu den Olympischen Spielen 1972.
Das Jubiläum zu den Olympischen Spielen in München und die von Otl Aicher zu diesen Spielen entworfenen Plakate haben mich auf den folgenden Text des Apostels Paulus gestoßen (1. Korinther 9,24-27):
24 »Wisst Ihr nicht, dass die, die im Stadion laufen, die laufen zwar alle, aber nur einer erlangt den Kampfpreis? Lauft so, dass Ihr ihn ergreift!
25 Jeder aber, der Wettkämpfe bestreitet, lebt in jeder Hinsicht enthaltsam; jene nun, damit sie einen vergänglichen Kranz erlangen, wir aber einen unvergänglichen.
26 Ich also laufe nicht ziellos; ich kämpfe mit der Faust, nicht wie einer, der in die Luft schlägt,
27 sondern ich schlage mich selbst ins Gesicht und kasteie mich, damit ich nicht etwa, während ich anderen der Prediger war, selbst die Probe nicht bestehe.«
Das Leben als ein Wettkampf
Die ersten Olympischen Spiele fanden im Jahr 776 v.Chr. statt.(5) Auch schon in der Antike war die ›Olympiade‹ – wie heute – ein großes Sportereignis, zu dem Zuschauer und Athleten aus der ganzen Welt anreisten. Dabei ging es nicht nur um den Sport, sondern auch um wirtschaftliche und politische Interessen. Über politische Konflikte wurde während der Spiele hinweggeschaut, und neben den Wettkämpfen fanden religiöse Feiern, politische Kundgebungen, kulturelle Veranstaltungen, z.B. Kunstaustellungen, statt, und es gab ein groß angelegtes Unterhaltungsprogramm. (6)
Das stellt uns vor die Frage: Warum lösen sportliche Wettkämpfe – und erst recht so große Sportereignisse wie die Olympischen Spiele – eine solche Faszination bei uns Menschen aus? Dass der Sport die Massen in der Antike ebenso wie heute in den Bann ziehen konnte, zeigt, dass hier etwas in uns Menschen angesprochen wird, das uns offenbar ausmacht – ganz unabhängig von der Zeitepoche, in der wir leben.
Zur Zeit des Neuen Testaments gab es bei den Griechen – neben den Olympischen Spielen – zwei weitere berühmte nationale Festspiele. Eines waren die Isthmischen Spiele, deren Austragungsort Korinth war. (7) Hier gründete der Apostel Paulus um das Jahr 50 eine christliche Gemeinde.(8) Die korinthischen Christen waren also mit athletischen Wettkämpfen sehr vertraut. Diese Lebenswirklichkeit – und sogar das Fachvokabular aus dem Bereich der Wettkämpfe (9) – greift Paulus im 1. Korintherbrief auf und macht daraus ein Bild für unser Leben: Unser Leben ist wie ein Wettlauf um einen Kampfpreis. Es gilt, das Leben zu bestreiten, den Lebenskampf zu gewinnen. Wir sprechen von unserem Lebenslauf, den wir zu meistern versuchen und den wir besonders gut und reich ausschmücken. Wir verweisen auf unsere bisherigen Etappensiege, um dem nächsten Ziel möglichst nahe zu kommen, um der eine zu sein, der den Kampfpreis erlangt. Auch in ganz anderen Lebenssituationen zeigt sich der Wettkampfcharakter unseres Lebens: Ein Mann will eine Frau erobern. Das menschliche Leben ist wie ein Wettkampf um einen Kampfpreis. Dass das so ist, stellt Paulus ganz nüchtern fest. Er stört sich daran auch nicht. Im Gegenteil: Paulus fordert uns sogar auf: ›Lauft so, dass Ihr ihn ergreift! Dass Ihr den Kampfpreis gewinnt!‹
Wir kennen das gut: Sobald wir uns ein Ziel gesetzt haben, sobald wir einen Kampfpreis vor Augen haben, sind wir motiviert, uns für das Erreichen dieses Ziels anzustrengen. So wie ein Athlet sich durch tägliches Training und Selbstdisziplin auf den Wettkampf vorbereitet, sind wir bereit, uns selbst einzuschränken, um unser Ziel zu erreichen, den Kampfpreis zu erlangen: »Jeder aber, der kämpft, lebt in jeder Hinsicht enthaltsam.« (V. 25)
Die Ruhmessucht als Lebensantrieb
Der Vergleich unseres Lebens mit einem Wettkampf trägt als solches noch keinen spezifisch christlichen Gedanken in sich. Von dem Philosophen Lucius Annaeus Seneca (ca. 1-65 n.Chr.), einem Zeitgenossen Jesu und des Paulus, ist uns ein ähnlicher Vergleich überliefert:
»Faustkämpfer – wie viele Schläge nehmen sie im Gesicht, wie viele am ganzen Körper hin? Sie ertragen sie dennoch ohne Qual aus Ruhmessucht, und nicht weil sie kämpfen, erdulden sie das, sondern um kämpfen zu können: allein schon das Training ist eine Marter. Auch wir wollen alles überwinden.«(10)
Dem entgegen hält der Apostel »einen unvergänglichen Kranz« und damit eine andere Möglichkeit, sein Leben zu bestreiten.
Das Wort Gottes als Lebensantrieb
Was Paulus mit dem »unvergänglichen Kranz« meint, wird an einer anderen Stelle, wo er ebenfalls auf den Wettlauf und den Kampfpreis zu sprechen kommt, deutlich: »Ich jage ihm aber nach, ob ich’s wohl ergreifen könnte, weil ich von Christus Jesus ergriffen bin. […] ich jage auf das Ziel zu, dem Kampfpreis der Berufung Gottes nach oben in Christus Jesus.« (Philipper 3,12b- 14)
Beiden Zielen, dem vergänglichen wie dem unvergänglichen Kranz, ist gemeinsam, dass das Erreichen des Zieles nur durch Selbstzurücknahme und Selbstdisziplin möglich ist. Entweder treibt uns unsere Ruhmessucht an, dann ist unser Ziel der vergängliche Kranz. Oder aber ich werde vom Wort Gottes angetrieben (»weil ich von Christus Jesus ergriffen bin«), dann ist mein Ziel der unvergängliche Kranz.
Das griechische Wort für den Kranz, mit dem der Sieger eines Wettkampfs gekrönt wurde, ist στέφανος / stéphanos. Das wiederum verweist uns auf die »Dornenkrone« Jesu: »Und sie flochten einen Kranz / eine Krone [στέφανος / stéphanos] aus Dornen und setzten sie auf sein Haupt« (Matthäus 27,29; vgl. Markus 15,57; Johannes 19,2). Während das, wofür der »vergängliche Kranz« steht, bei jedem Menschen anders ist, geht es bei dem »unvergänglichen Kranz« nicht um irgendeinen Kranz, sondern um die »Dornenkrone«, um das, was Jesus der Welt und uns Menschen mit seinem Gang ans Kreuz vor Augen geführt hat.
Mit allem Nachdruck weist Paulus zu Beginn seines Briefes an die Gemeinde in Korinth darauf hin: »Denn ich habe mich entschieden, unter euch nichts zu wissen als Jesus Christus und ihn als Gekreuzigten.« (1. Korinther 2,2) Das »Wort vom Kreuz« nennt Paulus »eine Kraft Gottes« (1. Korinther 1,18).
Wenn ein Mensch nicht mehr durch seine Ruhmessucht angetrieben wird, sondern sich vom Wort Gottes ergreifen lässt, verändert das den Wettkampfcharakter des Lebens: »Ich also laufe nicht ziellos; ich kämpfe mit der Faust, nicht wie einer, der in die Luft schlägt, sondern ich schlage mich selbst ins Gesicht« (V. 26f.).
Anders als im ersten Bild des Wettlaufs geht es hier nicht um einen Kampf zwischen verschiedenen Wettkämpfern; hier ist kein anderer Boxer das Gegenüber. Der Gegner, der uns hier gegenübersteht, sind wir selbst. Für das Erreichen eines jeden Zieles müssen wir uns anstrengen – ganz gleich, welches Ziel wir vor Augen haben, und ganz egal, was unser Antrieb ist: ob unser eigener Ruhm oder der Wille Gottes. Es bedarf einer Anstrengung auf unserer Seite. Ist jedoch das Evangelium Gottes unser Ziel, dann gilt es nicht, unsere Mitmenschen als Gegner auszustechen, sondern uns selbst zu bezwingen, unsere eigene Ruhmessucht zu überwinden. Nicht nur das Verhältnis zu mir selbst ändert sich, weil ich frei von meiner Ruhmessucht bin, sondern auch das Verhältnis zu meinen Mitmenschen: Ich begegne ihnen nicht mehr als Gegner, sondern bin frei für meinen Mitmenschen als meinen Nächsten. Darauf stößt uns Paulus an einer dritten Stelle, in der er den »Kranz« (στέφανος / stéphanos) als Bild aufgreift: »Denn wer ist […] unser Ruhmeskranz – seid nicht auch ihr es vor unserem Herrn Jesus, wenn er kommt?« (1. Thessalonicher 2,19)
Die Kraft zu diesem Kampf gegen uns selbst können wir nicht selbst aufbringen, aber das müssen wir auch nicht. Es ist eben nicht unsere Kraft, sondern eine »Kraft Gottes« (1. Korinther 1,18). Getrost dürfen wir sie uns von Gott schenken lassen – ja noch mehr: Wer Gottes Wort hört, wird dessen gewahr, dass der Kampf schon längst entschieden ist:
»Gott aber sei Dank, dass er uns den Sieg gibt durch unseren Herrn Jesus Christus.« (1. Korinther 15,57)
Mit diesem Wort des Apostels Paulus aus dem Schlussteil seines ersten Briefes an die Korinther grüße ich Sie herzlich,
Ihr
Gregor Wiebe, Pfarrer
P.S.: Wer zu dem 1. Korintherbrief des Paulus mehr erfahren möchte, ist herzlich zum Bibelgesprächsabend eingeladen.
Anmerkungen
1 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Olympische_ Sommerspiele_1972 (Einsicht: 02.VI.2022).
2 Vgl. Wilhelm Niemöller [jüngerer Bruder von Martin Niemöller (1892-1984)], Gustav Heinemann. Bekenner der Kirche, Gütersloh (Verlag Kirche und Mann) 1970, S. 22-24; Werner Koch, Heinemann im Dritten Reich. Ein Christ lebt für morgen, Wuppertal (Aussaat Verlag) 1972, S. 113-120.
3 Gustav Heinemann, Den Haß überwinden. Ansprache bei der Trauerfeier für die Opfer des Terroranschlags während der Olympischen Spiele. München, 6. September 1972, in: ders., Allen Bürgern verpflichtet. Reden und Schriften. Band I: Reden des Bundespräsidenten 1969-1974, Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1975, S. 105f.
4 Vgl. Winfried Nerdinger / Wilhelm Vossenkuhl (Hg.), Otl Aicher. Designer. Typograf. Denker,
in Zusammenarbeit mit Fritz Frenkler, Hannes Gumpp, Hans Hermann Wetcke und der Technischen Universität München (TUM), München
/ London / New York (Prestel) 2022. Unser Gemeindeglied Roswitha Baum-Erbert wurde von ihrem Mann Walter Baum darauf aufmerksam gemacht, dass anlässlich des 100. Geburtstags von Otl Aicher eine Sonderbriefmarke erschienen ist: »Sonderpostwertzeichen zum 100. Geburtstag von Otl Aicher (1922-1991)«, gestaltet von Frank Philippin (Brighten the Corners, Aschaffenburg). Die Briefmarke ist im Internet abgebildet. (Einsicht: 16.VI.2022). Frau Baum-Erbert hat dafür gesorgt, dass dieser Gemeindebrief an diejenigen, denen er postalisch zugestellt wird, von uns mit dieser Briefmarke versendet wird. Für diese schöne und aufmerksame Geste sei ihr an dieser Stelle herzlich gedankt.
5 Vgl. Oscar W. Reinmuth, Art. »Olympia. III. Die Olympischen Spiele«, in: Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike, Bd. 4, München (dtv) 1979, Sp. (286-288) 286.
6 Vgl. Oscar W. Reinmuth, Art. »Olympia. III. Die Olympischen Spiele«, in: Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike, Bd. 4, München (dtv) 1979, Sp. (286-288) 287.
7 Vgl. Wolfgang Decker, Art. »Isthmia«, in: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, hg.v. Hubert Cancik / Helmuth Schneider, Bd. 5, Stuttgart / Weimar (J. B. Metzler) 1998, Sp. 1147f.
8 Vgl. Udo Schnelle, Einleitung in das Neue Testament (UTB 1830), Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) [11994] 52004, S. 76.
9 Folgende Sportausdrücke verwendet Paulus hier: στάδιον / stádion (V. 24) ist die Rennbahnoder die Arena. βραβεῖον / brabeion (V. 24) ist der Kampfpreis, in der Regel ein Kranz aus Palm- oder Fichtenzweigen. στέφανος / stéphanos (V. 25) Kranz aus Palmzweigen für den Sieger. ἀδήλως/ adälos (V. 26) bezieht sich auf den Wettlauf, ist uns in seiner Bedeutung allerdings nicht mehr ganz klar; vermutlich ist jemand gemeint, der sein Ziel nicht fest vor Augen hat. πυκτεύειν / pykteúein (V. 26) ist der Faust- bzw. Boxkampf. ὑπωπιάζειν/ hypopiázein (V. 27) bedeutet ›ins Gesicht‹ oder ›unter die Augen schlagen‹. κηρύσσειν / kerýssein (V. 27) bezieht sich hier auf den Herold (bei Paulus: »der Prediger«), der die Kampfregeln und v.a. die Namen der Athleten sowie deren Herkunftsland ausrief. Vgl. dazu Karl Heim, Die Gemeinde des Auferstandenen. Tübinger Vorlesungen über den 1. Korintherbrief, hg.v. Friso Melzer, München (Neubau-Verlag) 1949, S. 121f.
10 Lucius Annaeus Seneca, Epistulae morales, Ad Lucilium. Epistulae morales LXX-CXXIV,[CXXV]./ An Lucilius. Briefe über die Ethik 70-124,[125] (Philosophische Schriften. Lateinisch und deutsch Bd. 4), übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Manfred Rosenbach, Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1984, S. 136: »Athletae quantum plagarum ore, quantum toto corpora excipiunt? ferunt tamen omne tormentumgloriae cupiditate nec tantum quia pugnant, ista patiuntur, sed ut pugnent: exercitatio ipsa tormentum est« (IX,78,16. Den Hinweis auf das Seneca-Zitat fand Vf. bei Wolfgang Schrage, Der erste Brief an die Korinther (EKK VII/2), Solothurn / Düsseldorf (Benziger Verlag) / Neukirchen-Vluyn (Neukirchener Verlag) 1995, S. 363 Anm. 499.
11 Andreas Lindemann, Der Erste Korintherbrief (HNT 9,1), Tübingen (Mohr Siebeck) 2000, S. 214.